Fellow Readers #3: Paulina Czienskowski, Berlin
Fellow Readers is all about highlighting a new book lover from our community, their current projects and favourite reads.
English version below
Von Paulina Czienskowski hörte ich 2018 das erste Mal und bestellte mir direkt ihr gerade erschienenes Manifest Gegen die Emotionale Verkümmerung (Korbinian Verlag). Seitdem verfolge ich ihr Tun, also ihr Schreiben und habe gerade ihren zweiten Roman zu Ende gelesen. Paulina schreibt oft über das, was manchmal schwer in Worte zu fassen ist und findet genau dabei so aufmerksam gewählte Worte. Nähe, Distanz, Körper, Beziehungen und das Leben dazwischen, all das findet in ihren Texten einen Ort und auch einen Kontext.
In ihrem neuen Buch dem mond geht es gut (Aufbau Verlag) erkundet sie auf sehr besondere und poetische Art und Weise weibliche Erfahrungswelten und die Beziehungen zwischen Mutter und Kind und findet dabei ein super feines Gespür für Zwischentöne. Eine junge Mutter blickt auf die Beziehung zu ihrer eigenen Mutter und gleichermaßen auf die Beziehung zu deren Mutter. So entsteht ein wahnsinnig komplexes und gleichzeitig erleuchtendes Konstrukt an Erkenntnissen, Fragen der Zugehörigkeit, Aufzeichnungen von Versäumnissen und wohlwollender Worte. Der Roman ist meiner Meinung nach ein so einfühlsames, detailreiches und wahnsinnig anfassendes Buch, dass ich es jeder Person empfehlen kann – ob Müttern, Vätern, Töchtern, Söhnen und Enkelkindern. Ich habe lange nicht mehr so viele Sätze dick unterstrichen, wie in diesem Buch.
Paulina Czienskowski veröffentlichte außerdem ihr Debüt, den Roman Taubenleben (Blumenbar), der auf der Shortlist für den EU-Literaturpreis stand und schreibt neben ihrer literarischen Arbeit unter anderem für Die Zeit und Das Wetter, außerdem Texte für die Bühne. Paulina lebt und arbeitet als freie Autorin und Journalistin in Berlin.
Ich freue mich total und bin super dankbar, dass Paulina uns ein paar Fragen zu ihrem Buch, aber auch generell zu ihrem Schreiben beantwortet hat.
– das kind wie die Sonne: sie schenkt licht und enttarnt
Was liest du gerade?
Paulina Czienskowski: Verzweiflungen von Heike Geißler und Augustblau von Deborah Levy.
Du hast gerade deinen zweiten Roman dem mond geht es gut veröffentlicht. Was war der Ausgangspunkt für dieses Buch? Gab es ein Schlüsselerlebnis oder einen Gedanken, der Anstoß zu diesem Buch gab?
Paulina: Vor dreieinhalb Jahren bin ich Mutter geworden, ein halbes Jahr nach Geburt habe ich die unausweichliche Bezogenheit zwischen Kind und gebärender Person in einem Audiostück für den Deutschlandfunk literarisiert. Vielleicht banale, aber weitreichende erste Gedanken waren hier ein Anfang, die unter anderem auch den Roman tragen: Eltern spiegeln sich gnadenlos und multiperspektivisch in ihrem Kind. Und: Eltern sind verantwortlich dafür, dass wir leben und unser Gepäck, das wir bis zum Ende mit uns tragen – jeder bleibt das Kind seiner Eltern. Ich schreibe sehr innerlich, weshalb mein eigenes Erleben sozusagen Schlüsselerlebnis für fast jeden meiner Texte ist, das ich versuche, in eine literarische Form zu gießen.
Du schaffst es, in dem mond geht es gut, so feine zwischenmenschliche Beobachtungen greifbar zu machen, dass ich mich manchmal fast ertappt fühlte, so unbewusst in meiner Familienkonstellation zu agieren. Was ist dein Schlüssel zu solchen Arten von Beobachtungen?
Paulina: Ich hatte immer schon eine Art Detail-Versessenheit, in der ich mich verlieren kann (nicht immer entspannt, weil der Raum für Interpretation und Analyse bei mir manchmal endlos scheint). Beim Schreiben konzentriere ich mich gerne auf Close-Ups, weil diese bei mir endlose Gefühlsketten und Assoziationen auslösen können und intensiv zu mir sprechen, während Informationen oft einfach durch mich hindurchfallen. Und so schreibe ich Gefühlen nach, suche nach Bildern, die meine Sprache körperlich formen, sodass ich die Rippen einer Figur spüre oder einen behäbig-schweren Mann über Dielen laufen sehe, der diffuses Unbehagen auslöst und damit alles erzählen kann.
Wie verändert sich dein Lesen, wenn du selbst gerade mitten im Schreiben bist?
Paulina: Es gibt Phasen, in denen ich lesen muss, um weiterzugehen in meinem Text oder auch, um meinen Kopf zwischendrin zu befreien. Und dann wiederum gibt es Phasen, in denen ich Sorge habe, dass mich interessante Gedanken anderer zu sehr ablenken könnten.
Wie man auch mit gebrochenem Bein auf einen Baum klettern würde, wenn nur noch die Kirschen oben in der Krone das Kind beruhigen würde.
Welcher literarische Satz hat dich zuletzt wirklich bewegt?
Paulina: Beim Schreiben folge ich oft einem Klang, einem inneren Rhythmus, lese mir ständig alles laut vor. Auch beim Lesen ist das so: Einzelne Sätze können etwas in mir auslösen, bleiben länger, und manchmal verfolgen sie mich jahrelang. An vielen Stellen in Friederike Mayröckers Texten werde ich derart angesprungen, zum Beispiel neulich in Und ich schüttelte einen Liebling: „Dann folgte ein Tag dem anderen ohne dasz die Grundfragen des Lebens gelöst worden wären.“
Gibt es Autor:innen, die dich besonders geprägt haben oder nach wie vor begleiten – als Lesende und als Schreibende?
Paulina: Viele. Die Bücher sind wie Freund:innen, die man gerne um sich hat, mit denen man aber nicht immer sprechen muss, um ihnen nah zu sein. Für dem mond geht es gut bin ich gerne und immer wieder in Kate Zambrenos Schreiben getaucht.
Herzlichsten Dank für deine bedachten, wohlgewählten Worte, Gedanken und deine Zeit, liebe Paulina.
—Shirley
Und es tut dir, auch wenn du sagst, es sei dir egal, trotzdem weh, wenn sie dich so achtlos kommentiert.
English Version
I first heard of Paulina Czienskowski in 2018 and immediately ordered her newly published Manifest Gegen die Emotionale Verkümmerung (Korbinian Verlag). Since then, I’ve been following her work, essentially her writing and just finished reading her second novel. Paulina often writes about things that are difficult to put into words, and in doing so, she finds words that are so attentively and precisely chosen. Closeness, distance, the body, relationships and the space in between – all of these find both a place and a context in her texts.
In her new novel, dem mond geht es gut (Aufbau Verlag), she explores female experiences and the relationships between mother and child in a uniquely poetic and perceptive way. She traces the perspective of a young mother reflecting not only on her relationship with her own mother, but also on the correlation between her mother and grandmother. What emerges is a wonderfully complex and illuminating tapestry of insights, questions of belonging, traces of things unsaid, and words full of goodwill. To me, this novel is an incredibly tender, detailed and emotionally resonant book – one I would recommend to everyone: mothers, fathers, daughters, sons and grandchildren alike. I haven’t underlined this many sentences in a book in a very long time.
Paulina Czienskowski also published her debut novel Taubenleben (Blumenbar), which was shortlisted for the EU Prize for Literature. In addition to her literary work, she writes for Die Zeit and Das Wetter, among others, and writes texts for the theatre. She lives and works as a freelance writer and journalist in Berlin.
I’m truly happy and feel very honoured that Paulina took the time to answer a few questions for us about her new novel and her writing in general.
(…) Menschen laufen ineinander, sickern ein ineinander. Schlaufen kreuzen, verweben sich. Auf der Rückseite Chaos, vorne der leserlich gestickte Schriftzug auf dem vorzeigbaren Stück Stoff.
What are you currently reading?
Paulina Czienskowski: Verzweiflungen by Heike Geißler and August Blue by Deborah Levy.
You’ve just published your second novel, dem mond geht es gut. What was the starting point for this book? Was there a key experience or thought that inspired you to write this book?
Paulina: Three and a half years ago, I became a mother. About six months after the birth, I explored the inevitable entanglement between child and birthing person in an audio piece for Deutschlandfunk. Perhaps simple, yet far-reaching initial thoughts were the starting point here, ideas that also underpin the novel: Parents are reflected mercilessly and from multiple perspectives in their child. And: Parents are responsible for the fact that we exist, and for the baggage we carry with us until the end – everyone remains their parents' child. I write very much from the inside out, so my own experience is essentially the key moment for almost every one of my texts – something I try to pour into literary form.
In dem mond geht es gut, you manage to make such subtle interpersonal observations tangible that I sometimes almost felt caught, recognising my own unconscious behaviour within my family constellation. What is your key to these kinds of observations?
Paulina: I've always had a kind of obsession with detail, something I can completely lose myself in (not always in a relaxed way, because the room for interpretation and analysis can seem endless to me). When writing, I like to focus on close-ups because they trigger endless chains of feeling and associations in me, speaking to me in a very intense way, whereas information often just passes through me. So I trace feelings in my writing, searching for images that shape my language physically, so that I can feel a character’s ribs, or see a heavy, slow man walking across creaking floorboards, stirring up a diffuse sense of unease and thus telling everything.
How does writing affect your reading habits when you are in the middle of the writing process?
Paulina: There are phases where I need to read in order to move forward in my text or just to clear my head in between. And then there are phases where I worry that other people’s interesting thoughts might distract me too much.
Wir, drei Frauen, zwischen uns jeweils vierundzwanzig Jahre und dieser massive Tisch aus Weißbuche.
Which literary sentence has moved you deeply most recently?
Paulina: When I write, I often follow a sound, an inner rhythm, I read everything out loud constantly. It’s the same when I read: single sentences can trigger something in me, they stay longer and sometimes they follow me for years. I often feel this when reading Friederike Mayröcker. Just recently, in Und ich schüttelte einen Liebling, I was struck again by a line: „Dann folgte ein Tag dem anderen ohne dasz die Grundfragen des Lebens gelöst worden wären.“ ("Then one day followed another without the fundamental questions of life having been answered.")
Are there any authors who have had a lasting influence on you, both as a reader and a writer?
Paulina: Many. The books are like friends you enjoy having around, but you don't always have to talk to them to be close to them. While working on dem mond geht es gut, I kept returning to the writing of Kate Zambreno, and enjoyed repeatedly immersing myself into it.
Thank you so much for your thoughtful, well-chosen words, thoughts and time, dear Paulina.
—Shirley
Eine Freude zu lesen, die Fragen, Paulinas Antworten. Berührend schön ♥️