Kaiserinnen des Lesens – Oder wahrer Luxus ist eine warme Hand hinter den Augen
Empresses of Reading – Or True Luxury Is a Warm Hand Behind the Eyes.
English version below
Viele meiner Freundinnenschaften haben ihre ersten Sätze gemeinsamer Geschichten im Internet geschrieben. Social Media bildete den idealen Raum, in dem wir uns annähern konnten, stets im Bewusstsein der überlappenden Interessen und Vorlieben. Kaffeetische, Sofas und Parkdecken wurden dann zu Bühnen, auf denen wir in völlig neue Welten eintauchten, unsere Aufmerksamkeit für den Moment im Flugmodus. Ähnlich wie in vielen Geschichten von Miranda July, die zeigen, wie Intimität aus den unerwartetsten Situationen erwachsen kann – manchmal verstörend, oft aber auch herzerwärmend. Gemeinsames Lesen kann genau das bewirken: einen Raum erschaffen, in dem Menschen sich selbst und einander näherkommen, indem sie sich durch die Augen anderer wahrnehmen. Denn am Ende sind wir auch nur Elizabeth, Kelda und Jack-Jack, die in einer Salzwasserpfütze auf dem Wohnzimmerboden von Maria schwimmen lernen.
In einer postdigitalen Gesellschaft, die von der Müdigkeit der Menschen in sozialen Medien durchdrungen ist – einer Müdigkeit, die viele frühestens noch während der Pandemie, aber spätestens in heutigen Zeiten von Polykrisen erfasst hat –, werden Menschen, die Räume für echte Bindungen jenseits von Algorithmen und Benachrichtigungen schaffen, zu den wahren Kulturschaffenden unserer Zeit. Brand Strategy Consultant Eugene Healey nennt sie die neuen Kurator*innen des Post-Luxus: Menschen, die nicht mehr durch materielle Güter, sondern durch ihre Fähigkeit bestechen, bedeutungsvolle Momente zu erschaffen.
Post-Luxus-Statussymbole will heißen: eine neue Form von sozialem Status, die nicht mehr durch materiellen Reichtum oder klassische Luxus- und Konsumgüter definiert wird, sondern durch die Fähigkeit, kulturelle oder soziale Räume zu gestalten. In einer Gesellschaft, in der traditionelle Statussymbole wie teure Autos oder Designerkleidung an Bedeutung verlieren, gewinnen immaterielle Werte wie Gemeinschaft, kuratorische Fähigkeiten und die Kreation authentischer Erlebnisse an Bedeutung. DJs, die es schaffen, in ihren Sets Stimmungen einzufangen und damit einen Raum völliger körperlicher Selbstaufgabe und reinster Freude bei den anwesenden Tanzenden zu kreieren. Köchinnen, die mit ihren Menüs mehr als Nahrungsaufnahme, die soziale Erlebnisse möglich machen. Und was ist mit Büchern?
Buchclubs und Leseplattformen sind längst nicht mehr nur Orte des literarischen Diskurses. Sie stehen für einen grundlegenden Wandel: weg vom passiven Konsumieren hin zum aktiven Produzieren von Kultur. Wer gemeinsam liest, erschafft aktiv einen Raum für Reflexion und Austausch. Einen Raum multipler Möglichkeiten. Buchclubs und -plattformen sind Orte, an denen Bücher nicht nur gelesen, sondern verhandelt, weitergedacht und in neue Kontexte gesetzt werden. Die kuratorische Praxis der Buchauswahl, die Art der Gesprächsführung, die Schaffung eines offenen und zugänglichen Umfelds – all das trägt dazu bei, dass Literatur mehr ist als ein individuelles Erlebnis. Sie wird zum kollektiven Moment, zu einem sozialen Ereignis. Diese Räume, die in einer digital fragmentierten Welt immer wichtiger werden, sind Orte des Widerstands gegen Vereinzelung, gegen algorithmische Vereinheitlichung und gegen das Vergessen jener Geschichten, die sonst keinen Platz finden würden.
„In einer Zeit, in der Beziehungen oft transaktional erscheinen, in der Zugehörigkeit über Likes und Followerzahlen definiert wird, ist es radikal, sich hinzusetzen und sich Zeit für ein Gespräch über Literatur und all das, worauf sie sich bezieht, zu nehmen.“
Buchclubs bewegen sich in einer faszinierenden Dualität: Sie sind gleichzeitig intim und öffentlich, persönlich und politisch. Während eine Person allein mit einem Buch eine private Beziehung zum Text aufbaut, transformiert der geteilte Leseakt diese Intimität in etwas Größeres. Eine Gastgeberin, die nicht nur Wein und Käse serviert, sondern auch gezielt Schweigen und Verletzlichkeit zulässt, wenn schwierige Passagen besprochen werden. Ein moderiertes Gespräch, das zwischen analytischer Distanz und emotionaler Nähe pendelt. Diese kuratierte Verwundbarkeit macht Buchclubs zu Orten, an denen Status nicht mehr durch das Was, sondern durch das Wie definiert wird: Wie schaffen wir es, uns gegenseitig zu öffnen? Wie verwandeln wir private Leseerfahrungen in kollektive Erkenntnisse? Wer sich mit anderen über Bücher austauscht, macht es sich und einem Gegenüber warm, schafft einen Raum schützender Intimität, in der Kultur und der Diskurs darüber blühen kann. Die Möglichkeit einer Gegenöffentlichkeit, eine Alternative zum passiven Konsum der digitalen Welt, in der beschriebene und besprochene Brustwarzen nicht zensiert und Bücher Schwarzer Autorinnen nicht verbannt werden. Räume, die wir heute mehr brauchen denn je.
Es geht also nicht nur um die Bücher, sondern um das, was sie ermöglichen: authentische Begegnungen. In einer Zeit, in der Beziehungen oft transaktional erscheinen, in der Zugehörigkeit über Likes und Followerzahlen definiert wird, ist es radikal, sich hinzusetzen und sich Zeit für ein Gespräch über Literatur und all das, worauf sie sich bezieht, zu nehmen. Hier entsteht eine Form der Gemeinschaft, die jenseits von Zweckmäßigkeit und Effizienz liegt. Ein Buchclub ist keine Networking-Veranstaltung, kein Produktivitäts-Tool. Er schafft einen Ort des Zuhörens und des Verstehens – und genau das macht ihn so wertvoll.
Gemeinsames Lesen birgt eine kulturelle und soziale Kraft. Es zeigt uns, dass wir nicht allein sind mit unseren Gedanken und Ängsten. Es verbindet uns über Generationen, Hintergründe und Erfahrungen hinweg. Und es erinnert uns daran, dass Kultur lebendig ist – dass sie wächst, sich entfaltet und Raum für uns alle schafft. Dass jedes gelesene Buch eine Brücke sein kann, jedes Gespräch ein neuer Anfang. Und dass in Zeiten der Entfremdung und Unsicherheit gerade das Teilen von Geschichten uns die Hoffnung gibt, die wir brauchen, um weiterzumachen. Meine digital begonnenen Freundinnenschaften bestehen beinahe alle noch, manche mehr, manche weniger. Die Geschichten, die dafür sorgten, dass Abend für Abend bei meinem damaligen Buchclub, bei freundschaftlichen Abendessen oder Geburtstagen unsere Bänder enger geknüpft werden konnten, leben heute noch in mir. Ebenso wie die realen Geschichten all der Menschen, deren digitaler Weg meinen kreuzten. Sie verschwimmen in meiner Erinnerung zu einer großen literarischen Fiktion, die ich gedanklich oft aufsuche, wenn ich grade keinen Buchclub besuchen kann.
Und dann? Hoffe ich, dass ich Ocean Vuongs Der Kaiser der Freude im Sommer im Beisein anderer lesen kann und wir uns kaiserinnengleich darüber freuen werden.
– Gastbeitrag von Anna Fiedler. Anna Fiedler schreibt und lebt in Hamburg. Folge ihr auf Substack oder Instagram.


Empresses of Reading – Or True Luxury Is a Warm Hand Behind the Eyes
Many of my friendships wrote their first sentences of shared stories on the internet. Social media provided the ideal space for us to connect, always aware of our overlapping interests and preferences. Coffee tables, sofas and park blankets then became stages where we immersed ourselves in entirely new worlds, our attention set to airplane mode. Much like in many of Miranda July’s stories, which show how intimacy can emerge from the most unexpected situations – sometimes unsettling, but often deeply heartwarming. Shared reading can achieve exactly that: creating a space where people come closer to themselves and each other by perceiving through the eyes of others. Because in the end, we are all just Elizabeth, Kelda and Jack-Jack, learning to swim in a saltwater puddle on Maria’s living room floor.
In a post-digital society steeped in social media fatigue – a fatigue that many first felt during the pandemic but that has become inescapable in today’s era of polycrises – people who create spaces for genuine connections beyond algorithms and notifications are becoming the true cultural architects of our time. Brand strategy consultant Eugene Healey calls them the new curators of post-luxury: individuals who captivate not with material possessions but with their ability to craft meaningful moments.
Post-luxury status symbols signify a new form of social status, no longer defined by material wealth or traditional luxury and consumer goods but by the ability to shape cultural and social spaces. In a society where traditional status symbols like expensive cars or designer clothing are losing significance, immaterial values like community, curatorial skills and the creation of authentic experiences are gaining importance. DJs who manage to capture emotions in their sets and create a space of pure physical surrender and joy for the dancing crowd. Chefs who craft menus that offer more than sustenance – they enable social experiences. And what about books?
"Those who read together actively create a space for reflection and exchange. A space of multiple possibilities."
Book clubs and reading platforms are no longer just places for literary discourse. They represent a fundamental shift: away from passive consumption toward the active production of culture. Those who read together actively create a space for reflection and exchange. A space of multiple possibilities. Book clubs and platforms are places where books are not just read but negotiated, reconsidered, and placed in new contexts. The curatorial practice of book selection, the way discussions are conducted, the creation of an open and accessible environment – all contribute to making literature more than an individual experience. It becomes a collective moment, a social event. These spaces, increasingly crucial in a digitally fragmented world, stand as resistance against isolation, algorithmic homogenization, and the forgetting of stories that might otherwise go unheard.
"In a time when relationships often feel transactional, when belonging is measured by likes and follower counts, it is radical to sit down and take time for a conversation about literature and everything it connects to."
Book clubs exist in a fascinating duality: They are both intimate and public, personal and political. While an individual builds a private relationship with a text, the shared act of reading transforms that intimacy into something larger. A host who not only serves wine and cheese but also deliberately allows silence and vulnerability when discussing difficult passages. A moderated conversation that oscillates between analytical distance and emotional closeness. This curated vulnerability turns book clubs into places where status is no longer defined by the what but by the how: How do we manage to open up to one another? How do we transform private reading experiences into collective insights? Engaging in conversations about books with others creates warmth, a space of protective intimacy where culture and discourse can flourish. A possibility for counterpublics, an alternative to the passive consumption of the digital world, where described and discussed nipples are not censored and books by Black women authors are not banned. Spaces we need more than ever today.
It is not just about the books but about what they enable: authentic encounters. In a time when relationships often feel transactional, when belonging is measured by likes and follower counts, it is radical to sit down and take time for a conversation about literature and everything it connects to. This is where a form of community emerges that exists beyond utility and efficiency. A book club is not a networking event, not a productivity tool. It creates a place for listening and understanding – and that is what makes it so valuable.
Shared reading holds cultural and social power. It shows us that we are not alone with our thoughts and fears. It connects us across generations, backgrounds, and experiences. And it reminds us that culture is alive – that it grows, unfolds, and creates space for all of us. That every book read can be a bridge, every conversation a new beginning. And that in times of alienation and uncertainty, it is precisely the sharing of stories that gives us the hope we need to keep going.
The friendships I formed digitally almost all still exist, some more, some less. The stories that once tightened our bonds night after night at my former book club, during friendly dinners, or at birthday gatherings still live within me. Just like the real stories of all the people whose digital paths crossed mine. They blur in my memory into a vast literary fiction that I often revisit in thought when I am unable to attend a book club.
And then? I hope that this summer, I will read Ocean Vuong’s The Emperor of Gladness in the presence of others, and that we will rejoice in it, like empresses.
—Guest contribution by Anna Fiedler. Anna Fiedler writes and lives in Hamburg. Follow her on Substack or Instagram.